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05.08.2022
Comic-History: Pratt - ein Weltenbummler

Zum 95. Geburtstag von Hugo Pratt

Zum 95. Geburtstag von Hugo Pratt

Die Biographie Pratts liest sich ebenso spannend wie die Abenteuer seines berühmtesten Helden Corto Maltese: Am 15.06.1927 wurde Hugo Eugenio Pratt in einer Ortschaft nahe der italienischen Stadt Rimini geboren.

Sein Vater Rolando Pratt war ein Franzose englischen Ursprungs, seine Mutter Evelina Genero, deren Familie aus Venedig stammte, war Italienerin. Schon bald zogen seine Eltern nach Venedig um. Pratt sah sich selbst als Venezianer, da er seine Kindheit in dieser Stadt verbrachte. Man braucht nur einige wenige Arbeiten des Autors zu lesen um festzustellen, welche Faszination Venedig auf ihn ausübte.

Im Alter von zehn Jahren zog er mit seiner Mutter 1937 zu seinem Vater in die italienische Kolonie Abessinien, das heutige Äthiopien, wo dieser in den schwierigen Zeiten Arbeit gefunden hatte. Auf diese Weise lernte Hugo Pratt eine andere Kultur kennen und interessierte sich stark für die Geschichte Afrikas. Es entstanden viele Freundschaften zur einheimischen Bevölkerung, u.a. zu einem jungen Äthiopier, der Bediensteter der Familie Pratt war. Als Folge dieser Freundschaft lernte Pratt die unterschiedlichen Landessprachen und begann, sich für die Traditionen des Landes zu interessieren. Durch diese Erfahrungen erwarb er eine seiner wichtigsten Eigenschaften: den Respekt vor allen anderen Kulturen.

1942 ging es zurück in die Heimat. Die Heimreise trat er allein mit seiner Mutter an, da der Vater zwischenzeitlich im Internierungslager verstorben war. Nach Kriegsende gründete Hugo Pratt 1945 zusammen mit Dino Battaglia, Mario Faustinelli, Alberto Ongaro, Ivo Pavone, Giorgio Bellavitis und anderen die „Gruppe Venedig“. Ziel der Gruppe war es, Comics im amerikanischen Stil zu produzieren und der Jugend die großen klassischen Abenteuergeschichten nahezubringen (z.B. von Kipling, Stevenson und London). Vorbilder waren amerikanische Serien wie Milton Carniffs Terry and the Pirates, Bob Kanes Batman, Lyman Youngs Tim Tyler’s Luck und nicht zuletzt Will Eisners Spirit.

1945 erschien mit Asso di Picche die erste Comic-Serie, an der Pratt beteiligt war. Nach weiteren Comics nach Szenarien von Faustinelli und Ongaro wie Silver Pan, Indian River, Alan delle Stelle und Junglemen folgten aus der „Gruppe Venedig“ u.a. Pratt, Faustinelli und Ongaro Ende 1949 einer Einladung des argentinischen Verlegers Cesare Civita, für dessen Verlag Abril in Buenos Aires zu arbeiten. In dieser südamerikanischen Phase entstanden für Civitas Zeitschriften Salgari und Misterix nach Szenarien von Alberto Ongaro El cacique blanco (1951) und Legión extranjera (1954).

In Argentinien lernte Pratt den Autoren Hector G. Oesterheld kennen. Die Zusammenarbeit mit Oesterheld stellte einen Wendepunkt in seiner künstlerischen Arbeit dar. Der Einfluss des amerikanischen Comics verlor sich, und er entwickelte seine eigene besondere Art der graphischen Darstellung. Nach Szenarien von Oesterheld zeichnete Pratt El Sargento Kirk (1953-59), Ticonderoga (1957-58), Ernie Pike (1957-59) und Lobo Conrad (1958).

Oesterheld gründete 1957 einen eigenen Verlag mit den Magazinen Frontera und Hora Cero. Zunächst erschien in Frontera der Comic Ticonderoga. Für das Magazin Hora Cero zeichnete Pratt ab 1957 Ernie Pike. Darüber hinaus zeichnete er 1958 für das gleiche Magazin eine weitere Trappergeschichte mit dem Titel Lobo Conrad. Im Verlauf des Jahres 1959 trennten sich Oesterheld und Pratt aufgrund von Differenzen um unklare Urheberrechte.

Für den Verlag Grupo Editorial Fascinación von Alvaro Zerboni entstand die neue Serie Ann y Dan (1959), Pratts erster Comic, der komplett von ihm konzipiert und realisiert worden war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er ausschließlich nach Szenarien anderer Autoren gearbeitet.

Neben seiner Arbeit fand Pratt immer wieder Zeit für ausgedehnte Reisen nach Patagonien (Hochland im südlichen Südamerika) und Europa, war Sänger und Gitarrist in einem Orchester und machte die Bekanntschaft des Jazzsängers Dizzy Gillespie. Außerdem unterrichtete er mehrere Jahre an der von Enrique Lipszyc gegründeten Escuela Panamericana del Arte. In dieser Kunstschule vermittelte er, zeitweise gemeinsam mit Alberto Breccia, seinen jüngeren Kollegen die ersten Grundbegriffe des Comic-Zeichnens.

Im Spätsommer 1959 verließ Pratt Argentinien und ging nach London, wo er vor allem für die Agentur Fleetway Publications nach Manuskripten englischer Autoren an der Serie War Picture Library arbeitete. Sein Weg führte ihn anschließend wieder nach Argentinien. Dort entstanden für das Magazin Misterix noch die grandiose Abenteuerserie Capitán Cormorant (1962), thematisch ein Vorläufer der Südseeballade und der meisterhafte Western Wheeling (1962).

Als Pratt 1962 schließlich nach Italien zurückkehrte, war er mittlerweile ein international etablierter Zeichner. Außerdem hatte er durch ausgedehnte Reisen einen gigantischen Fundus an Sagen, Anekdoten und ethnologischen Eigentümlichkeiten zusammengetragen, die zunehmend in seine folgenden Arbeiten einflossen.

Durch die umfangreiche Comic-Produktion, besonders für argentinische und englische Verlage, hatte Pratt seinen Strich zu immer größerer Einfachheit entwickelt, der oft fast den Grad der Abstraktion erreichte. Es entstand ein charakteristischer Zeichenstil, mit dem Pratt seinen bevorzugt exotischen Schauplätzen eine faszinierende Tiefe verlieh.
Wieder in Venedig ansässig, arbeitete Pratt für das italienische Magazin Corriere dei Piccoli, eine wöchentliche Kinderbeilage der Tageszeitung Corriere della Sera, für die er in den folgenden Jahren bekannte Abenteuerromane in Comic-Fassungen umsetzte (z. B. Sindbad der Seefahrer, die Odyssee, die Schatzinsel).

1967 trat für Pratt eine Situation ein, die sich jeder Comic-Zeichner wünscht: Der Genueser Verleger und Pratt-Fan Florenzo Ivaldi gründete das Magazin Sgt. Kirk, das ausschließlich dazu dienen sollte, die bisherigen Arbeiten Pratts in geschlossener Folge in Europa zu publizieren und dem Zeichner zu Weltruhm zu verhelfen: Ein absolutes Novum in der Geschichte der europäischen Comics. In jahrelanger mühevoller Arbeit war es Ivaldi gelungen, die Originalversionen der in aller Welt erschienenen Comic-Storys Pratts zusammenzutragen.

Für das neue Magazin konzipierte Pratt auf insgesamt 165 Seiten eine abgeschlossene Comic-Erzählung mit dem Titel Una ballata del mare salato (1967, dt. Die Südseeballade) in der auf Seite 7 eine Figur debütierte, die ihn endgültig berühmt machen sollte: Corto Maltese. Ein Globetrotter bot sich als ‚Held‘ der Abenteuer-Story schon aus erzähltechnischen Gründen geradezu an. Pratt nutzte die Figur des Kapitäns ohne Schiff, um Selbsterlebtes in die Handlung mit einzubringen. Die Parallelen zwischen dem Lebenslauf des Autors und seines Protagonisten sind daher kein Zufall.

Außerdem kreierte Pratt für das Magazin Sgt. Kirk die amerikanische Polizei-Serie Luck Star O’Hara (1968) und Gli Scorpioni del Deserto (1969). Nach der Einstellung der ersten Staffel des Magazins Sgt. Kirk Ende 1969 zog Pratt im folgenden Jahr nach Frankreich, wo er sich zunächst in Saint-Germain-en-Laye und später in Paris niederließ. In den späteren Staffeln von Sgt. Kirk wurde, wie ursprünglich geplant, nur noch älteres Material des Autors veröffentlicht.

Von 1970 bis 1973 zeichnete Pratt für die französische Zeitschrift Pif Gadget eine Folge von 21 Corto Maltese – Kurzgeschichten. Diese Kurzgeschichten gehörten zum Besten, was bis dahin aus Pratts Feder geflossen war und legten den Grundstein für seinen späteren Weltruhm.

Corto Maltese tritt im Verlauf seiner verschiedenen Abenteuer als sensibler, unberechenbarer Held an den markantesten historischen Schauplätzen des beginnenden 20. Jahrhunderts auf.

Für alle seine Serien, vor allem aber für Corto Maltese entwickelte Pratt ein Erzählkonzept, das darauf angelegt war, die Grenzen zwischen historischen Fakten und Fiktion aufzuheben.

1973 folgte ein neues Abenteuer von Wheeling, das in European Cartoonist erschien und die Wiederaufnahme der in Sgt. Kirk im Jahre 1969 begonnenen Serie Gli Scorpioni del Deserto (Les Scorpions du Desert) in Tintin. Beide Serien wurden später fortgesetzt.

Trotz des Erfolges von Corto Maltese arbeitete Pratt von 1976 bis 1980 auch an anderen Comic-Stoffen, vor allem an Bonellis Sammelreihe Ein Mann - ein Abenteuer (Un uomo un’avventura), für die er insgesamt vier albenlange Geschichten schrieb.

1983 erhielt Pratts Held Corto Maltese sein eigenes Magazin, dessen Inhalt eine Mischung von kolorierten Versionen älterer Arbeiten Pratts, Vorabdrucken aktueller Projekte des „Meisters“ und Arbeiten ausgewählter junger Talente war. Pratt war mit der neuen Zeitschrift am Ziel seiner Wünsche angelangt. In der ersten Ausgabe startete Folge 1 von Milo Manaras  Tutto ricominciò con un’estate indiana (Indian Summer), zu dem Pratt das Szenario schrieb, eine Erfahrung, die er mit Manaras  El Gaucho (1991) erneuerte.

1984 erfolgte ein weiterer Umzug nach Grandvaux in der Schweiz in ein Haus, das groß genug war, um seinen mehr als 30.000 Büchern Platz zu bieten. Seit dieser Zeit genoss Pratt endgültig den Ruf eines Klassikers. In den letzten 12 Jahre seines Lebens arbeitete Pratt hauptsächlich an der Umarbeitung seiner erfolgreichen Serien, der Kolorierung älterer s/w-Arbeiten, der Fortführung von Corto Maltese und an albenlangen historischen Erzählungen wie Cato Zoulou (1984-1988) oder Saint-Exupéry (1994). Die graphische Umsetzung von Saint-Exupérys letztem Flug wurde eines seiner letzten Projekte. Die 1995 entstandene Story Morgan wurde posthum erst im Jahre 1999 veröffentlicht.

Pratt wurde ein kulturelles Phänomen, ein Mythos. Zahlreiche Ausstellungen und Artikel widmeten sich seiner Person und seinen Comics. Sein Name zog in die Enzyklopädien ein und seine Arbeiten wurden Gegenstand von Hochschulstudien.
Pratts Comic-Werk wurde weltweit mit einer großen Anzahl von Preisen und Auszeichnungen bedacht. Am 20. August 1995 starb der Autor und Zeichner Hugo Pratt im Alter von 68 Jahren in Pully nahe Lausanne. Bis zu diesem Zeitpunkt zeichnete er rund 10.000 Comic-Seiten. Pratt, selbst ein Weltenbummler, lebte an vielen verschiedenen Orten, beherrschte eine Reihe von Sprachen und war Kenner vieler Kulturen, eben ein echter Kosmopolit. Am 15.6.22 wäre er 95. Jahre alt geworden.

Pratt bei PPM

Autor: Michael Hüster