Pratt, selbst ein Weltenbummler, lebte an vielen verschiedenen Orten, beherrschte eine Reihe von Sprachen und war Kenner vieler Kulturen, eben ein echter Kosmopolit.
Viele „alte“ ZACK-Fans werden sich sicher noch an Pratts berühmte Südseeballade erinnern, die 1974 als deutsche Erstveröffentlichung in ZACK (4-20/74) erschien. Die jugendlichen Leser wussten mit dem außergewöhnlichen Zeichen- und Erzählstil Pratts damals allerdings wenig anzufangen, und so musste die Story unbeendet nach 119 Seiten abgebrochen werden. Anfang der achtziger Jahre wurde das Ende der Story durch das österreichische Comic Forum veröffentlichte. Seitdem sind viele Pratt-Geschichten bei verschiedenen deutschen Verlagen erschienen, so z.B. Ann & Dan, Wüstenskorpione, Fort Wheeling, Ein Mann ein Abenteuer, Saint- Exupéry oder Ein indianischer Sommer. Pratts Comic-Werk wurde weltweit mit vielen Preisen und Auszeichnungen bedacht.
Weniger bekannt ist, dass Pratts Schaffen nicht nur auf die Abenteuer von Corto Maltese und seine große Anzahl anderer Comic-Werke beschränkt war. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass er auch Schauspieler, ein genialer Aquarell-Maler, Drehbuchautor und ein vollendeter Schriftsteller war. Als Beispiele für seine Schriftstellertätigkeit seien hier Le roman de Criss Kenton (1989) und Jesuit Joe (1990) genannt. Herausragend waren auch seine zahlreichen Illustrationen von Büchern und Schriften, z. B. Poêmes von Rudyard Kipling oder Lettres d’Afrique von Arthur Rimbaud (1993).
Pratt wurde ein kulturelles Phänomen, ein Mythos. Zahlreiche Ausstellungen und Artikel widmeten sich seiner Person und seinen Comics. Sein Name zog in Enzyklopädien ein und seine Arbeiten wurden Gegenstand von Hochschulstudien.
Wer die Biographie Pratts liest, der hat das Gefühl, sich in einem der spannenden Abenteuer seines berühmtesten Helden Corto Maltese zu befinden: Hugo Eugenio Pratt erblickte am 15.06.1927 in einer Ortschaft nahe der italienischen Stadt Rimini als Sohn von Rolando Pratt und Evelina Genero das Licht der Welt. Wenige Zeit später zogen seine Eltern nach Venedig um. Hugo war gerade erst zehn Jahre alt, als er gemeinsam mit seiner Mutter 1937 zu seinem Vater in die italienische Kolonie Abessinien (heute Äthiopien) reiste. Rolando Pratt hatte dort trotz schwieriger wirtschaftlicher Lage Arbeit gefunden.
Für den jungen Hugo Pratt waren die Ereignisse und Erlebnisse dieser Kinder- und Jugendjahre sehr prägend und beeinflussten seine späteren Arbeiten entscheidend. Er lernte eine andere Kultur und die Geschichte Afrikas kennen und er nutzte den Aufenthalt, um viele Freundschaften zur einheimischen Bevölkerung zu knüpfen. Außerdem erwarb er eine seiner wichtigsten Eigenschaften: den Respekt vor anderen Kulturen. Nachdem er unfreiwillig die Wirren des 2. Weltkrieges in einem Batallion einer italienischen Miliz erleben musste, kehrte er 1942 schließlich nach Italien zurück.
Nach Kriegsende war Hugo Pratt 1945 Gründungsmitglied und Teil der „Gruppe Venedig“ zur der u. a. auch Dino Battaglia, Mario Faustinelli, Alberto Ongaro, Ivo Pavone und Giorgio Bellavitis zählten. Künstlerische Vorbilder für die Gruppe waren amerikanische Serien wie Milton Carniffs Terry and the Pirates, Bob Kanes Batman, Lyman Youngs Tim Tyler’s Luck und nicht zuletzt Will Eisners Spirit.
Sein Debut als Comic-Zeichner lieferte Pratt mit Asso di Picche, eine Comic-Serie, die erstmals 1945 erschien und für die er hauptsächlich die Bleistiftzeichnungen anfertigte. Nach weiteren Comics wie Silver Pan, Indian River, Alan delle Stelle und Junglemen nach Szenarien von Faustinelli und Ongaro folgten aus der „Gruppe Venedig“ u.a. Pratt, Faustinelli und Ongaro Ende 1949 einer Einladung des argentinischen Verlegers Cesare Civita, für dessen Verlag Abril in Buenos Aires zu arbeiten. Für Civitas Zeitschriften Salgari und Misterix zeichnete Pratt nach Szenarien von Alberto Ongaro El cacique blanco (1951) und Legión extranjera (1954). Außerdem wurde bereits in Italien veröffentlichtes Material, wie die Serie Asso di Picche, in Salgari erneut abgedruckt.
Während seines Aufenthalts in Argentinien lernte Pratt den Autor und Verleger Hector G. Oesterheld kennen. Die Zusammenarbeit mit Oesterheld stellte für Pratts künstlerische Arbeit einen Wendepunkt dar. Der stilistische Einfluss des amerikanischen Comics verlor sich, und er entwickelte seine eigene besondere Art der graphischen Darstellung. Nach Szenarien von Oesterheld zeichnete Pratt El Sargento Kirk (1953-59), Ticonderoga (1957-58), Ernie Pike (1957-59) und Lobo Conrad (1958). In Ernie Pike geht es um einen Kriegsberichterstatter gleichen Namens, der während des Zweiten Weltkriegs die Kämpfe vom Pazifik über Nordafrika bis nach Europa verfolgt. Bei den anderen Abenteuern handelt es sich jeweils um Western- bzw. Trappergeschichten. 1959 trennten sich Oesterheld und Pratt nach mehrjähriger erfolgreicher Teamarbeit.
Nachdem der Zeichner ausschließlich nach Szenarien anderer Autoren gearbeitet hatte, entstand für den Verlag Grupo Editorial Fascinación von Alvaro Zerboni die neue Serie Ann y Dan (1959), Pratts erster Comic, der komplett von ihm konzipiert und realisiert worden war. Das Szenario von Ann y Dan ist in Ostafrika im Jahre 1913 angesiedelt und schildert die abenteuerlichen Erlebnisse einer britischen Fortbesatzung zu Beginn des 1. Weltkriegs. Vorbild für das Aussehen der weiblichen Hauptfigur war Pratts damalige Lebenspartnerin Annie Frognier.
Neben seiner Arbeit fand Pratt immer wieder Zeit für ausgedehnte Reisen (Patagonien, Europa), war als Sänger und Gitarrist aktiv und vermittelte an einer Kunstschule jüngeren Kollegen die ersten Grundbegriffe des Comic-Zeichnens. Im Spätsommer 1959 verließ Pratt Argentinien und ging nach London, wo er vor allem für die Agentur Fleetway Publications nach Manuskripten englischer Autoren an der Serie War Picture Library arbeitete.
Nachdem er im Sommer 1960 nach Argentinien zurückgekehrt war, kreierte er für das Magazin Misterix die grandiose Abenteuerserie Capitán Cormorant (1962 ), thematisch ein Vorläufer der Südseeballade und den Western Wheeling (1962): Die Handlung ist im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts angesiedelt und spielt wieder im Trappermilieu, dessen Romantik durch die Unabhängigkeitskriege schwer gelitten hat. Für Wheeling erfand der Autor die Figur des Simon Girty, die erkennbar ein Selbstportrait Pratts ist.
Als Pratt 1962 schließlich nach Italien zurückkehrte, war er mittlerweile zu einem international etablierten Zeichner geworden. Durch die umfangreiche Comic-Produktion, besonders für argentinische und englische Verlage, hatte Pratt seinen Strich zu immer größerer Einfachheit entwickelt, der oft fast den Grad der Abstraktion erreichte.
Wieder in Venedig ansässig, arbeitete Pratt für das italienische Magazin Corriere dei Piccoli, eine wöchentliche Kinderbeilage der Tageszeitung Corriere della Sera, für die er in den folgenden Jahren bekannte Abenteuerromane in Comic-Fassungen umsetzte (z. B. Sindbad der Seefahrer, Die Odyssee, Die Schatzinsel).
1967 gründete der Genueser Verleger und Pratt-Fan Florenzo Ivaldi das Magazin Sgt. Kirk, das ausschließlich dazu dienen sollte, die bisherigen Arbeiten Pratts vollständig in Europa zu publizieren. Für das neue Magazin konzipierte Pratt eine neue Comic-Erzählung mit dem Titel „Una ballata del mare salato“ (1967, dt. Die Südseeballade, 165 Seiten) in der auf Seite 7 eine Figur debütierte, die den Autor endgültig berühmt machen sollte: Corto Maltese. Pratt nutzte die Figur des Kapitäns ohne Schiff, um Selbsterlebtes in die Handlung einzubringen. Die Parallelen zwischen dem Lebenslauf des Autors und seines Protagonisten sind daher kein Zufall.
Für das Magazin Sgt. Kirk entstand außerdem die amerikanische Polizei-Serie Luck Star O’Hara (1968) und Gli Scorpioni del Deserto (1969), eine Serie, die einer Sondereinheit der britischen Armee gewidmet war, die während des zweiten Weltkrieges in Äthiopien stationiert war. Nach der Einstellung der ersten Staffel des Magazins Sgt. Kirk Ende 1969 zog Pratt im folgenden Jahr nach Frankreich, wo er sich zunächst in Saint-Germain-en-Laye und später in Paris niederließ. In den späteren Staffeln von Sgt. Kirk wurde, wie ursprünglich geplant, nur noch älteres Material des Autors veröffentlicht.
Für die französische Zeitschrift Pif Gadget zeichnete Pratt von 1970 bis 1973 eine Folge von 21 Corto Maltese - Kurzgeschichten, die in vier Alben zusammengefasst wurden: Sous le signe du Capricorne, Corto toujour un peu plus loin, Les Celtiques und Les Ethiopiques. Corto Maltese wurde damit zum Held einer eigenen Serie. Diese Kurzgeschichten gehörten zum Besten, was bis dahin aus Pratts Feder geflossen war und legten den Grundstein für seinen späteren Weltruhm. Corto Maltese tritt im Verlauf seiner verschiedenen Abenteuer als sensibler und unberechenbarer Held an den markantesten historischen Schauplätzen des beginnenden 20. Jahrhunderts auf. Für alle seine Serien, vor allem aber für Corto Maltese entwickelte Pratt ein Erzählkonzept, das darauf angelegt war, die Grenzen zwischen historischen Fakten und Fiktion aufzuheben.
1973 folgte ein neues Abenteuer von Wheeling, das in European Cartoonist erschien und die Wiederaufnahme der in Sgt. Kirk im Jahre 1969 begonnenen Serie Gli Scorpioni del Deserto (Les Scorpions du Desert) in Tintin. Beide Serien wurden später fortgesetzt. Trotz des Erfolges von Corto Maltese arbeitete Pratt von 1976 bis 1980 auch an anderen Comic-Stoffen, vor allem an Bonellis Sammelreihe „Ein Mann - ein Abenteuer“ (Un uomo un’avventura), für die er insgesamt vier albenlange Geschichten schrieb.
1980 übernahm Pratt die Präsidentschaft der A.I.A.C. (Association Internationale des Auteurs de Cartoons et Comics). In dieser Funktion bemühte er sich vor allem, seinen seit dem Putsch von 1977 unterdrückten argentinischen Freunden und ehemaligen Kollegen wie Hector Oesterheld zu helfen.
Pratts Held Corto Maltese erhielt 1983 sein eigenes Magazin, dessen Inhalt eine Mischung von kolorierten Versionen älterer Arbeiten Pratts, Vorabdrucken aktueller Projekte des „Meisters“ und Arbeiten ausgewählter junger Talente war. Die häufig mit Skizzen und Aquarellen Pratts aufgelockerten Beiträge, die als Reiseberichte Corto Malteses oder anderer Globetrotter gestaltet, über Natur, Kultur und Technik in aller Welt berichteten, waren jeweils ein redaktionelles Highlight.
In der ersten Ausgabe startete Milo Manaras Indian Summer, zu dem Pratt das Szenario schrieb, eine Erfahrung, die er mit Manaras El Gaucho (1991) erneuerte. Seit dieser Zeit genoss Pratt endgültig den Ruf eines Klassikers.
1984 erfolgte ein weiterer Umzug nach Grandvaux in die Schweiz.
In den letzten 12 Jahre seines Lebens arbeitete Pratt hauptsächlich an der Umarbeitung seiner erfolgreichen Serien, der Kolorierung älterer s/w-Arbeiten, der Fortführung von Corto Maltese und an albenlangen historischen Erzählungen wie „Cato Zoulou“ (1984-1988) oder „Saint-Exupéry“ (1994). 1995 entstand schließlich noch „Morgan“. Die graphische Umsetzung von Saint-Exupérys letztem Flug und das Abenteuer eines jungen britischen Marineoffiziers, dessen Name an den berühmten Piraten gleichen Namens erinnert und der seine Abenteuer im zweiten Weltkrieg im Mittelmeerraum erlebt, zählten zu Pratts letzten Projekten.
Der Wunsch des Künstlers, der Expressivität Raum zu geben, führte im Verlauf seines künstlerischen Schaffens immer mehr dazu, Bilder hervorzubringen, die für sich auf den Originalseiten betrachtet, etwas Unfertiges besaßen, bzw. „unzeichnerisch“ sind, wie es Pratt selbst auszudrücken pflegte. Eine beunruhigende Nacktheit in den Hintergründen, die sich nicht in den früheren Werken fand. Pratt verlor sich nicht mehr in Einzelheiten der Darstellung. Er drückte sich im Stil bloßer Ideogramme aus.
Am 20. August 1995 starb Hugo Pratt im Alter von 68 Jahren in Pully nahe Lausanne. Bis zu diesem Zeitpunkt soll er rund 10.000 Comic-Seiten gezeichnet haben.
Quellen:
Comixene 35, Reddition 26 + 41/Dossier Hugo Pratt/Verlag Volker Hamann, Verschiedene Internetseiten (u. a. Brussels BD Tour, Casterman und Carlsen), Corto Maltese-Alben / Schreiber & Leser
Autor: Michael Hüster